Freiräume 
Freiräume - Boden, Decke, vier Wände. So einfach. Oder doch nicht?
Was ist ein Raum überhaupt?
Dieses Projekt erkundete ganz praktisch künstlerische Zugänge zu offenen oder verstellten Räumen und erprobte Woche für Woche frische Ideen für urbane und rurale Orte in und um Weimar. Bewegung sollte uns dabei als wichtiger Bestandteil zur freien Aneignung dieser Erfahrungswelten und für die Entdeckung des „Unerwarteten“ werden. 
Repräsentative Künstler wurden vorgestellt und diskutiert, kritische Texte zwischen den Zeilen gelesen, eigene künstlerische Interventionen vorbereitet und diskutiert und Räume im städtischen und ländlichen Kontext künstlerisch kommentiert und dokumentiert. 
"Die Dörfer, wohl über hundert in der Umgebung, sind prachtvoll", schwärmte Feininger einmal. "Die Architektur ist mir gerade recht, so anregend, so ungeheuer monumental! Es gibt Kirchtürme in gottverlassenen Nestern, die mir das Mystischste sind, was ich von den so genannten Kulturmenschen kenne!" (Lyonel Feininger, 1871-1956)
Eine Kirche. Sogar drei Kirchen. Alle auf dem Feiningerradweg, in der Nähe von Weimar gelegen, – so zu sagen „Feiningerkirchen”. Taubach, Mellingen und Lehnstedt, kleine Orte um Weimar herum, boten uns eine Möglichkeit, mit Raum auf ungewöhnlicher Weise zu arbeiten. Auf die Fahrräder, fertig, los! 
Kunst zu machen in Räumen, die von sich aus der Bedeutung färben, stellte uns vor neue Herausforderungen und ungewohnten Denkweisen. Eine Kirche ist nie ein „White Cube”. Sie trägt Geschichte, Gegenwart und Glauben in sich. Und doch ist es auch ein poetischer Raum, ein ruhiger Ort. Wir kamen von außen, stellten infrage, kommentierten, beleuchteten. Wie färbte dies die studentische - künstlerische Praxis?
Wir entwickelten zunächst für uns im Projektmodul, danach direkt vor Ort und später mit und für Schüler:innen des Lyonel-Feininger-Gymnasiums Buttelstedt/Mellingen während ihrer Projekttage Möglichkeiten zur künstlerischen Intervention direkt in Taubach, Mellingen und Lehnstedt.
„Potentielle Räume“ als Ausgangspunkt für künstlerische Interventionen in sozial determi-nierten Räumen

Räume sind Strukturierungsmoment (nach Hamm, 1996) für alle Arten sozialer Interaktion. Sie werden in sozialen Abläufen produziert und die Wahrnehmung von Räumen in sozialen Prozessen erlernt. „Indem wir Räume produzieren, produzieren wir gleichzeitig ihre soziale Bedeutung und jedes Kind, das lernt, mit Raum umzugehen, erlernt gleichzeitig die Regeln, mit deren Hilfe es die den Räumen anhaftende Symbolik entschlüsseln kann.“ (Hamm, 1996)
Räume gibt es demnach nur in der kulturellen Überformung. Raum und Mensch stehen stets in einem interdependenten Wirkungsverhältnis zueinander. Mit anderen Worten: Erst die Nutzung macht den Raum. Räume sind letztlich Ergebnis menschlicher Syntheseleistungen (Löw, 2001). Jeder Raum weist eine materiell-physische Komponente, ein institutionalisiertes sowie normatives Regulationssystem, Regeln sozialer Interaktions- und Handlungsmuster und ein räumliches Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem auf.
Bourdieus sozialer Raum ist eine dreidimensionale Darstellung sozialer Strukturen, auf des-sen Handlungsebene sich das soziale Feld befindet. Für Bourdieu gibt es eine unmittelbare Verbindung zum physischen Raum, da sich der soziale Raum auch dort widerspiegelt. Die un-terschiedlichen sozialen Kapitalsorten bilden auch die Präferenzen und Möglichkeiten, die die Wahl von Räumen, Lebensorten und Quartieren hervorbringen: Es ist der Habitus, der das Habitat macht. Wobei auch das Habitat wiederum auf den Habitus zurück wirkt.
Die sozialen Determinationen von Räumen decken aber niemals alle möglichen Erfahrungsdi-mensionen von Räumen ab. In der künstlerischen Umdeutung, im Spiel und in der kreativen Erweiterung von Zwecken und Möglichkeiten lassen sich Räume erweitern, neu und anders erfahren und ihre vorhandenen sozialen Prägungen und Interpretationen in Frage stellen. Werner Sesink nennt das „Potentieller Raum“. Dabei geht es um den Zwischenraum, den der physische Raum, mit seinen baulichen Gegebenheiten und seiner materiellen Ausstattung und der immateriellen Dimension des Raumes, also seinen Nutzungszwecken, seiner Atmo-sphäre und seinen Deutungsangeboten anbietet. „Potentielle“ Räume meint also andere wissensbasierte, assoziative oder experimentelle Möglichkeiten von Räumen. Dabei können etwa bauliche oder gestalterische Analogien ein Ausgangspunkt sein, z.B. der strukturell ähn-liche Aufbau von Kirchen und Theatern. Auch das flexible Spiel mit Einrichtungselementen und ihren Funktionen führt in diese potentiellen Räume. Kinder sind meisten Expert:innen für solche Verwandlung von Räumen, etwa wenn Kartons oder Verpackungen zu Häusern o-der Fahrzeugen verwandelt werden, Teppich zu Flößen oder Kissen zu Eisschollen.
Potentielle Räumen rücken die vorhandenen sozialen Determinationen von Räumen stärker ins Bewusstsein, da sie in der Regel einen Perspektivwechsel provozieren oder ermöglichen und ein neues Erfahrungs-, Verhaltens- und Interpretationsangebot der Räume machen. Das geschieht etwa durch die Unterbrechung von Verhaltensroutinen im Raum, etwa wenn eine künstlerische Intervention Menschen in Durchgängen zum Anhalten bringt. Mitunter werden bestimmte sozial überkommene Verhaltensmuster überhaupt erst wieder reflektiert: z.B. Flüstern und leise Bewegungen in Bibliotheken und Museen. Wenn nach Gernot Böhme die Atmosphäre von Räumen auf der Wechselwirkung zwischen den Anwesenden und ihren
Zwecken, Inhalten, Gefühlen, Stimmungen, Stile der Anwesenden, aber auch geltenden Re-geln, ablaufenden Prozessen etc. und den Maßen, Anordnungen, der Materialität und Aus-stattung, der Funktionalität und Ästhetik entsteht, dann zielen potentiellen Räumen oft auf eine atmosphärisch neue Erschließung oder Erweiterung des Raumes.
Für Gestaltung potentieller Räume im Rahmen künstlerischer Interventionen bedarf es asso-ziative, wissensbasierte oder experimentelle Rechercheprozesse, in denen die praktischen, sozialen, geschichtlichen und atmosphärischen Dimensionen des Raumes erschlossen wer-den können. Die systematische methodengestützte Erschließung von potentiellen Räumen ist eine Seite des künstlerischen Prozesses, auf der anderen Seite aber steht das freie Spiel mit den Räumen: Potentielle Räume sind immer zuallererst einmal Spielräume.